Sie sind in Deutschland geboren, in der Schweiz aufgewachsen, haben viele Länder erlebt. Könnten Sie auch anderswo leben?
Wenn ich zwischen einem deutschen und einem Schweizer Pass wählen müsste, fühle ich mich als Schweizerin. Nicht das Land, das dich gebiert, sondern das Land, wo du lebst, ist dein Zuhause. Aber ich kann mir heute vorstellen, überall zu leben. Ich glaube, dass die Heimat dort ist, wo man Freunde hat, wo man jemanden liebt. Nationalitäten sind gar nicht so wichtig.
Gibt es heute beim Reisen noch Neues zu entdecken?
Das gibt es überall, sogar in der Schweiz! Jeder erlebt eine Reise anders, in diesem Sinn ist noch nichts entdeckt. Aber terra incognita gibt es immer wieder: Jetzt öffnet sich zum Beispiel die ganze ehemalige Sowjetunion. Wichtig ist aber, dass man – wenn man an Orte hingeht, die touristisches Neuland sind – keine falschen Hoffnungen weckt. Man macht zum Beispiel Fotos und nimmt sich dann nicht die Mühe, die Fotos wie versprochen auch zuzustellen. Wir leben in einer schnellen Welt, für die anderen aber ist es eine grosse Enttäuschung, und nach dem dritten Mal sind sie nicht mehr so freundlich.
Die Fotobranche lebt von Millionen – meist – schlechter Ferienfotos. Soll man die Kamra zu Hause lassen und statt dessen die fremde Umgebung anders auf sich wirken lassen?
Ich selber habe Hemmungen zu fotografieren. Ich versuche auch, meine Gruppe diesbezüglich zu einer gewissen Zurückhaltung anzuregen. Ich selber lasse mich auch nicht gerne fotografieren, es ist etwas Aggressives.
Was sollte man bei einer Reise in den geistigen Rucksack packen?
Sicher mal Offenheit, Freundlichkeit, eine gewisse Aufnahmebereitschaft, Neugier. Und ganz wichtig für die Schweizer – wir sind ein sehr unhöfliches Volk, obwohl wir dauernd Entschuldigung und danke sagen – ist Höflichkeit, Respekt vor der fremden Kultur. Auch Grosszügigkeit ist auf Reisen eine Tugend, und für den Schweizer oft etwas fremd.
Sie haben einmal in einer Kolumne geschrieben, dass Reisen die volkstümlichste Form von Glück ist. Was ist damit gemeint?
Weil es etwas ist, was man überall und jederzeit gratis haben kann. Man kann etwas zu Fuss kennenlernen, sei es eine Stadt, eie Landschaft, seien es Menschen oder Märkte. Man kann auch auf einer Tramfahrt zwischen Triemli und Paradeplatz eine Reise erleben, wenn man die Augen aufmacht. Oder wenn man die Fassaden anschaut: Jetzt wird in der Augustinergasse renoviert, und man entdeckt Erker und Ecken, die man zwanzig Jahre nicht gesehen hat, obwohl sie immer schon da waren. Schliesslich ist alles eine Reise, und es gibt auch die Reise nach innen. Gewisse Reisen muss man gar nicht machen, weil man nur nach innen reisen muss. Es kommt vor, dass ich einen Kunden, der unsicher ist, frage: «Ist diese Reise wirklich nötig?» Nicht jede Reise hat Platz in deinem Leben.
Gibt es unter Ihren Reisen ein besonders nachhaltiges Erlebnis?
Das war sicher die erste grosse Reise mit meinem Ex-Mann. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir am Bahnhof in Zürich nach Istanbul abgefahren sind, das war Ende der sechziger Jahre. Die Schweiz war für mich nachher nie mehr das Gleiche. Ich habe gemerkt, wie unwichtig Grenzen sind, wie sehr von Menschen gemacht, und wie sehr man irgendwo zu Haue sein kann, wo man vorher nie war. Ich habe erlebt, wie alle Werte – ob religiöse oder materialistische –, die man vorher für absolut gehalten hat, über den Haufen geworfen wurden. Das einzig Wichtige: Was für ein Mensch man war, welche ethischen und moralischen Grundsätze man hatte. Es gibt überall gute und schlechte Menschen, aber die Wünsche der Menschen sind überall die gleichen: Liebe, Wohlstand und Frieden.
© Informations-Blatt UBS; 09.07.92
Liebe Gisela
Bin heute wieder auf deiner Seite gelandet und finde unser Interview auch nach über 20 Jahren noch spannend! Dafür danke ich dir und hoffe, dass es dir weiterhin möglichst gut geht. Ich befinde mich gerade in Schweden und besuche einen Kurs für Living Food (vor vielen Jahren von der Amerikanerin Ann Wigmore erfunden und entwickelt). Hier habe ich etwas Zeit zum Nachdenken über das, was im Leben wesentlich und wichtig ist.
Herzliche Grüsse
Inga-Lill