Gibt es beim Reisen heute einen eindeutigen Trend?
Ich glaube, dass der Golfkrieg für viele plötzlich eine Art Zäsur bedeutete, es hat eine gewisse Bewusstseinsänderung stattgefunden: dass man nicht so schnell herumreisen und konsumieren kann, dass eine Woche Brasilien ökologisch ein Unsinn ist. Mir ist aufgefallen, dass Wandern und Velofahren eher im Zunehmen sind und dass man sich für weitere Reisen mehr Zeit nimmt. Ich bin nicht fafür, dass man nicht mehr reist, denn die Infrastruktur in den Drittweltländern ist vorhanden. Langfristig scheint es auch, dass der Tourismus als grösster Devisenbringer jede andere Wirtschaftsbranche überholen wird.
Eigentlich sollte durch Reisen das interkulturelle Verständnis verstärkt werden. Aber in der Schweiz stellt man heute eine zunehmende Fremdenfeindlichkeit fest, vor allem gegen Bewohner jener Länder, die in den Ferienprospekten angepriesen werden. Gibt es dafür eine Erklärung?
Im Verhältnis zur Grösse, sind die Deutschen und die Schweizer die meistreisenden Menschen, und ich bin oft überrascht, wie wenig sie die Liberalität, die sie auf den vielen Reisen lernen sollten, im Alltag praktizieren. Es ist aber kein typisch schweizerisches oder deutsches Phänomen, und ich stelle es auch bei mir selber fest: Der Mensch hat ein Revierdenken, hat Angst, dass sein Plätzchen besetzt wird. Aber vom Reisen sollte eine gewisse grosszügige Art des Denkens und Handelns resultieren, besonders wenn man sieht, mit wie wenig andere Völker glücklich sind. Dann muss man sich schon die Frage stellen, ob das, was wir als optimale Lebensform hinstellen, wirklich die optimale ist.
Der Kontakt zu den Einheimischen scheitert oft an fehlenden Sprachkenntnissen. Man reist nach Afrika, erwartet Rösti und Geschnetzeltes und dazu noch eine Bedienung auf deutsch. Sind wir zu bequem?
Die meisten sicher! Für mich ist aber die Sprache sehr wichtig. Vor einer Reise präge ich mir wenigstens die wichtigsten Sätze ein. Unter wichtigen Sätzen verstehe ich solche, dass der Andere versteht, dass ich ihn als Menschen kennenlernen will, dass ich nicht nur als Voyeur gekommen bin. Man darf aber nicht voraussetzen, dass der andere auf die Schweiz neugierig ist. Sie haben so viele grundsätzliche Probleme, und es ist ein Luxus, wenn man sich für andere Länder interessiert. Wir können uns diesen Luxus leisten, haben durch unsere privilegierte Situation, die durch Ausbeutung entstanden ist, eine Stufe erreicht, wo wir uns als Gönner für die Länder aufführen können, denen wir unseren Wohlstand verdanken.
Wie viele Sprachen sprechen Sie denn?
Fliessend fünf – Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch und Italienisch –, und dann ein bisschen dies und das: Türkisch, Nepali, Hindi, Portugiesisch. Es gibt übrigens hantastische Reisesprachführer, «Kauderwelsch für Globetrotter» heissen sie. Sie vermitteln ein gewisses Grundwissen, zum Beispiel auch über Gestik, die in vielen Ländern eine wichtige Rolle spielt.
Rieseführer gibt es heute zuhauf. Welcher ist denn der «Richtige»?
Es gibt mehr schlechte als gute, und man kann ja nie eine fremde Kultur auf 250 Seiten erleben, das Land mag noch so klein sein. Deskhalb ist jeder Reiseführer subjektiv. Ich selber ziehe Reiseführer vor, die von einem Herausgeber mit Hilfe von vielen Korrespondenten geschrieben wurden, wo jeder auf seinem Fachgebiet kompetent ist. Hervorragend sind zum Beispiel die APAGuides, auch vom Fotografischen her. Auch empfehlenswert: Express Edition, Moon-Publications-Führer und die DuMont-Reiseführer, aber nicht alle Titel.
Früher haben Reisen lange gedauert, man ist zu Fuss gegangen, mit Pferd und Kutsche, oder mit dem Zug. Heute steigt man in Kloten in das Flugzeug und zwanzig Stunden später in Bankok aus. Das muss einen Kulturschock bedeuten.
Es gibt ein chinesisches Sprichwort, dass man sich nie schneller bewegen soll, als dasss die Seele nachkommen kann. Man spricht oft von Jetlag, aber im Grunde genommen ist es etwas anderes: Die Kulisse ist zwar neu, im Geist ist man aber anderswo. Man muss der Seele Zeit lassen. Warum sollte sie anders sein als der Körper? Früher, mit dem Zug oder beim Laufen, hat man sich selber immer mitgetragen, ist mit jedem Schritt weiter weg vom Ort, wom man herkam, und näher am Ort, wo man hinkommen wollte. Homogenes Reisen sage ich dem.
Liebe Gisela
Bin heute wieder auf deiner Seite gelandet und finde unser Interview auch nach über 20 Jahren noch spannend! Dafür danke ich dir und hoffe, dass es dir weiterhin möglichst gut geht. Ich befinde mich gerade in Schweden und besuche einen Kurs für Living Food (vor vielen Jahren von der Amerikanerin Ann Wigmore erfunden und entwickelt). Hier habe ich etwas Zeit zum Nachdenken über das, was im Leben wesentlich und wichtig ist.
Herzliche Grüsse
Inga-Lill