Anderswo ist es schöner…

Obwohl die touristische Infrastruktur meistens mit ausländischem Geld finanziert wurde…

…das ist ja das Perfide, weil das Geld schliesslich in die Konsumländer zurückfliesst und im Land selbst durch den Tourismus nur neue Bedürfnisse und Wünsche geweckt werden, die für das normale Volk nicht nachvollziehbar und für die Entwicklung der Wirtschaft im Land negativ sind: Wesentliche Industriezweige werden vernachlässigt, landwirschaftlich guter Boden wird für Hotelbauten hergegeben, so dass das Land in eine Abhängigkeit gerät. Wir vermitteln ja auch eine Konsumhaltung, einen Wunsch nach Dingen, die das Leben angeblich leichter machen sollen.

Und wir suchen gerade das Umgekehrte. Sollte man dann grundsätzlich auf Reisen in Drittweltländer verzichten?

Das kann ich nicht so sagen, weil ich selber das Bedürfnis habe, dorthin zu reisen. Ich kann nicht das eine predigen und das andere machen. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, nur noch zwischen dem Tessin und Schaffhausen mit dem Fahrrad hin und her zu fahren. Ausserdem kann ich gar nicht Fahrrad fahren.

…und Auto?

Auch nicht. Ich habe alle meine Reisen mit öffentlichen Verkahrsmitteln gemacht. Ich kann laufen und schwimmen, kann telefonieren und auch ein Taxi bestellen. Man kann so sehr gut reisen.

«Ich habe gelernt, wie unwichtig Grenzen sind und wie sehr von Menschen gemacht, und auch wie sehr man irgendwo zu Hause sein kann, wo man vorher nie war.»

«Ich habe gelernt, wie unwichtig Grenzen sind und wie sehr von Menschen gemacht, und auch wie sehr man irgendwo zu Hause sein kann, wo man vorher nie war.»

Heute dauert eine Ferienreise im Durchschnitt nur zwei Wochen, und viele halten den Alltag nur wegen dieser zwei Wochen aus. Halten sich da Wunsch und Wirklichkeit noch die Waage?

Ich nenne das Phänomen Instant- oder Benettonkultur: Man muss sofort glücklich sein, man muss sofort den Sonnenuntergang haben. Aber das «Sofort» trifft auch für das Unglück zu, wenn man irgendwohin reist in der falschen Jahreszeit, zum Beispiel weil es billiger ist: im Winter nach Kreta oder in der Regenzeit auf die Seychellen. Der Prospekt zeigt nur die schönen Zeiten, und wenn man hinkommt, sind die Leute nicht draussen, auch die Esel sind im Stall, und es ist bei weitem nicht so pittoresk, wie es im Prospekt aussah. Dann ist man böse auf das Land und realisiert gar nicht, dass die Wunschvorstellungen, die man mitnimmt, nur ein Verkaufsargument waren, und dass man seine eigenen Träume selbst hineinprojiziert.

Aber die grosse Mehrheit hat immer «schöne und wunderbare Ferien» erlebt…

…sie sagen es wenigstens, weil sie aus den Prospekten oder aus dem Fernsehen feste Bilder im Kopf haben: zum Beispiel ein Fest, das alle zehn Jahre in den Anden stattfindet mit Prozessionen, mit Musik, mit farbigen Kleidern, und auch der Himmel ist blau. Dann kommt man hin, und es ist eine ganz banale Strasse, Dreck liegt herum, die Kleidung ist auch grau. Dann kommt die Enttäuschung, weil man ein anderes Bild im Kopf hat, aber man will es nicht zugeben, weil man ja vorher von den Reiseplänen erzählt hat. So erzählt man vieles, als ob man es erlebt hätte, obwohl es auch nur grauer Alltag war.

Anderswo ist es schöner, und das Gras in Nachbars Garten ist meist grüner. Ist Reisen denn auch Flucht vor dem Alltag?

Sicher, und das Schlimme ist, dass man sich selber immer mitnimmt und erst mit der Zeit merkt, dass man nicht immer fliehen kann. Ein Tapetenwechsel kann gut sein, wenn man gelernt hat, mit sich selber umzugehen. Wenn man aber in einem fremden Land plötzlich mit einer Problematik konfrontiert ist, vor der man gerade fliehen wollte, dann kann daraus eine Notlage, fast eine physische Panik entstehen, so dass die Probleme eher verstärkt werden.

Ein Gedanke zu „Anderswo ist es schöner…“

  1. Liebe Gisela
    Bin heute wieder auf deiner Seite gelandet und finde unser Interview auch nach über 20 Jahren noch spannend! Dafür danke ich dir und hoffe, dass es dir weiterhin möglichst gut geht. Ich befinde mich gerade in Schweden und besuche einen Kurs für Living Food (vor vielen Jahren von der Amerikanerin Ann Wigmore erfunden und entwickelt). Hier habe ich etwas Zeit zum Nachdenken über das, was im Leben wesentlich und wichtig ist.

    Herzliche Grüsse
    Inga-Lill

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